Wir haben zwar bereits vier Nächte in Kyoto verbracht, aber ausser dem Bahnhof und unserer beengten Unterkunft noch nicht viel von der Stadt gesehen. Das holen wir heute an einem Sonntag während der Schulferien nach. Viele Leute hat es an diesem Wochenende wohl überall. Wir spazieren wieder an den Bahnhof, um mit einem Lokalzug in den Nordwesten der Stadt zu fahren. Von dort geht es mit einem Bus zum goldenen Tempel. Mir fällt die Orientierung eher schwer. Ich finde es immer noch gewöhnungsbedürftig, wenn kaum ein Plan genordet ist und drehe somit fast jeden Plan vor meinem geistigen Auge. Auch das Busfahren läuft hier anders. Es gibt keine Ticketautomaten. Man bezahlt beim Aussteigen den Einheitspreis und wirft dafür den abgezählten Betrag in ein Kässeli beim Fahrer. Eingestiegen wird durch die hintere Türe. Manche Busfahrer öffnen die hintere Tür erst, wenn alle ausgestiegen sind. Das vermindert ein Gedränge. Bei der Rückfahrt aber drängen schon einige Einheimische rein, bevor alle ausgestiegen sind. Das gibt es also nicht nur bei uns, sondern vereinzelt auch im top organisierten und disziplinierten Japan. Die japanische Disziplin wünscht man sich aber im Allgemeinen schon auch bei uns im ÖV.
Wir steigen mit der Menge aus und folgen dem Menschenstrom. Uniformierte Winke-Männchen stehen an der Strassenecke bereit und weisen den Weg. Ich bin gespannt auf den goldenen Tempel. Eigentlich mag ich Gold nicht sonderlich. Meist finde ich es zu glänzend und zu protzig. Der Rokuon-ji liegt inmitten eines Parks an einem See. Nach dem Durschreiten des Tores gelangen wir zum Schrein, wo es bereits eine lange Schlange hat. Fast jeder will eine Münze in die Schatulle werfen, einen Wunsch aussprechen und den Gong schlagen. Hier ist der Preis festgelegt. Ein Wunsch kostet 200 Yen. Wir überspringen diesen Programmpunkt und folgen im Gänsemarsch der Menge. Es ist geregelt, auf welcher Seite man in welche Richtung zu gehen hat und wo man zum Selfie schiessen stehen bleiben darf. Wer dem widerhandelt, wird von einem mit Trillerpfeife ausgestatteten Winke-Männchen auf Spur gebracht. Die meisten einheimischen Touristen schiessen ihre Erinnerungsbilder mit dem Handy. Diese Entwicklung wird Nikon und Co nicht freuen.
Das Sonnenlicht wird vom den goldenen Mauern reflektiert und verleiht dem Pavillon, der sich im See spiegelt, einen strahlenden Charakter. Nach dem Umschreiten des Pavillons gelangen wir zu den obligaten Touristenshops. Hier kann man sich mit Glücksbringern eindecken, die zu Glück in der Schule, im Strassenverkehr, bei Prüfungen oder in der Liebe verhelfen sollen. Da dieses Glück nicht ewig währt, muss es regelmässig erneuert werden. Und so fliesst auch hier das Geld. Vor dem letzten Häuschen sind die Schlangen ebenfalls lang. Da kann man sich für 300 Yen einen Eintrag in sein Tempel-Büchlein machen lassen. Mit Tusche werden das Datum, der Name des Tempels und ein Segensspruch reingepinselt und mit einem roten Stempel beglaubigt. Es sieht toll aus! Ich hätte am liebsten auch so ein Andenken und schaue eine Weile bewundernd zu. Da dies aber offensichtlich nur in die speziellen Büchlein gemacht wird, verzichte ich darauf. Ein Papier hätte man ja noch in ein Fotoalbum kleben können, ein weiteres Büchlein steht nur rum.
Weiter geht unsere Kyoto Sightseeing-Tour zum nächsten Highlight: dem 1000 Torii-Weg. Mit dem Zug gelangen wir in den Süden der Stadt. Auch hier kann man aufgrund des grossen Andrangs den Eingang nicht verfehlen. Der Pfad steigt leicht an, die Torii stehen dicht beieinander. Je weiter hoch wir kommen, desto weniger Leute hat es. Es erklimmen aber viele den Hügel bis zum höchsten Tempel. Sogar in Stöckelschuhen. Oben angekommen, schlagen wir einen kleinen Trampelpfad ein, der auf einer meiner Karten eingezeichnet ist. Und schon sind wir alleine. Der Pfad führt durch den Wald nach unten, wo vermehrt auch Bambus anzutreffen ist. Wir kommen an einem von Moos überwachsenen Schrein vorbei. Hier sprechen auch wir einen Wunsch aus. Ob der gespendete 50iger zur Erfüllung reicht, ist eine andere Frage. Immerhin haben wir das inzwischen so häufig gesehen, dass wir den Ablauf halbwegs kennen: Verneigen, Geld reinwerfen, Gong schlagen, Verneigen, zweimal in die Hände klatschen, Wunsch aussprechen, verneigen. Weiter geht’s hangabwärts. Wir laufen durch Wohngebiete in Richtung unserer Unterkunft. Unterwegs begegnen wir einer Gruppe Rentnern, die Kricket spielen und Jugendlichen auf einem Baseballfeld. Als wir die grosse Brücke überqueren sehen wir sie: eine lange Reihe in voller Blüte stehender Kirschbäume, endlich!
Wir essen eine Kleinigkeit im veganen Restaurant nur wenige Schritte von unserer Unterkunft entfernt und gehen zwei Stunden später auch zum Znacht dorthin. Die Portionen sind etwas klein, aber sehr, sehr fein.